Sonntag, 22. November 2009

Der philosophische Zausel und die anderen..


Es ist schon seltsam mit den Menschen, auch mit den denkenden und philosophierenden: Kaum haben sie einige Erkenntnisse gewonnen, erheben sie sich über die anderen, die ihre Erhabenheit nur am Mehrwert, an mehr Kraft, oder an sonst etwas festmachen. Dazuhin bewährt sich der Spruch aus dem Schwabenland: "guck i rom, guck i nom, lauter domme om me rom".

Frei übersetzt: "Schau ich hin, schau ich her, die Dummen werden immer mehr..."

Ja, und wer hätte nicht gerne, dass viele so sind wie er selber - besonders dann, wenn man sich für einen angenehmen und interressanten Menschen hält? Also, bedarf es der gleichen Übermenschen, - Spielarten sind gestattet,- aber bitte, alle hochleistend und intelligent, so wie man selber.

So ist es nicht gänzlich verwunderlich, wie es einen oft trockenen, deutschen Philosophen zum Bhagan ziehen konnte, denn dieser war ja auch Philosoph. Der wollte aber viele andere erleuchten,und vor allem sich selber feiern.

So alternativ wie er sich gab, war dieser nicht, denn er wollte den modernen Kapitalismus, keine Armut, sondern Wohlleben. Das zog jene sich erhaben fühlenden Geister an, die auch nicht vom Wohlleben lassen wollten. Es mag typisch sein, dass es ein Schild gab vor der Vortragshalle, auf dem dazu aufgefordert wurde, die Schuhe und den Verstand draussen zu lassen.

Auch bei Sloterdijk ist die Frage manchmal naheliegend, ob bei der Lektüre und dem Anhören seiner neuesten, geistigen Auswürfe der Verstand besser weggelassen werden sollte, falls man ein Fan dieses Philosophen bleiben will. Doch ganz so einfach ist es nicht mit ihm, er drückt die Dinge eben oft anders aus, als es uns geläufig ist.

Lesenswert ist sicher folgendes Interview:

Peter Sloterdijk im Interview: "Nur Verlierer kooperieren"



Das neue Buch´des Philosophen kommt im Befehlston daher: „Du musst dein Leben ändern!" Ein Gespräch mit Peter Sloterdijk über die „Massenfrivolität" des Neoliberalismus, die Krise als Katastrophenfilm und das Genialische an Barack Obama. taz, 5. Mai und Falter, April 2009

Herr Sloterdijk, muss ich mein Leben ändern?

Sloterdijk: Vermutlich ja - unter der Voraussetzung, dass Sie sich in Hörweite des absoluten Imperativs begeben. Das ist eine riskante Position: Seit dreitausend Jahren fühlen sich zahllose Einzelne in den höheren Kulturen von spirituellen Autoren angesprochen, die den absoluten Imperativ ihrer Zeit artikuliert haben. Daraufhin haben sie oft alles stehen und liegen lassen.

Wer spricht da zu mir?

Sloterdijk: In unseren Tagen ist es die globale Krise, und zwar die ökonomische, die ökologische, die kulturelle. Ich habe mit meinem Buch versucht, eine Art Megaphon zu sein und zu formulieren, was aus der Krise unserer Zeit emaniert. Dabei geht es zunächst darum, die Realität der Krise überhaupt im Ernst zu begreifen.

Der Mensch ist ein übendes Wesen, lautet eine zentrale These Ihres Buches. Wie kann ich dann aber nicht in Hörweite sein? Anders gefragt: Wieso richtet sich dieser Imperativ dann nur an Einzelne, eine sensitive Elite?

Sloterdijk: Es gibt in jeder Epoche die Sensitiven, die auf den Appell antworten, und die Stumpfen, die einfach nur weitermachen wollen. Die Botschaft der aktuellen Krise ist noch nicht restlos entschlüsselt, doch vermutlich läuft die Decodierung auf etwas hinaus, was wir in den siebziger Jahren auf Basis des Berichts des Club of Rome schon einmal im Visier hatten - auf einen globalen Code der Zurückhaltung und um die Abkehr vom Credo des quantitativen Wachstums. Um dergleichen zu artikulieren müssen wir aufhören, die Krise zu ästhetisieren.

Passiert das im Augenblick?

Sloterdijk: Die westliche Krisenästhetik geht auf die Romantik zurück, seit einem halben Jahrhundert beherrscht sie die Welt-Massenkultur. Wir haben es fertiggebracht, Naturkatastropheen und Sozialkatastrophen als Horrorgenre zu ästhetisieren. Die Katastrophe ist für uns vor allem ein ästhetisches Konzept.

Aber die Finanzkrise kann man sich nicht gut als Horrorfilm ausmalen, oder?

Sloterdijk: Da wäre ich mir nicht so sicher. Einerseits erleben wir sie als die Rückkehr des Realen, sie bringt die Rache des ökonomisch Realen am Imaginären des Börsencasinos zum Zug. Hierbei sind im kollektiven Erleben die Ansätze zur Ästhetisierung unverkennbar - viele genießen die Krise auch ganz unverhohlen, weil sie „das System" bloßstellt. Die Sehweise des Theater- und Kinobesuchers ist so tief in uns eingepflanzt, dass wir die Gegenwart wie einen Katastrophenfilm erleben. Die basale Botschaft des Katastrophenfilms ist ja: Solange wir zuschauen, kann es nicht so schlimm sein.

„Du sollst Dein Leben ändern" - ist das nicht etwas unscharf? Darunter kann die große, fundamentale Wende verstanden werden, aber auch die tägliche Übung im Kleinen, die ja auch der Neoliberalismus von uns gefordert hat: Arbeite an Dir, halte Dich fit für den globalen Wettbewerb!

Sloterdijk: Der große Unterschied ist eben der, dass der Neoliberalismus eine Metaphysik des Mitmachens impliziert. Er wendet sich an den alten Adam in dessen schlimmsten Eigenschaften: Je gieriger Du bist, umso besser drückst Du Dich selbst aus und desto besser passt du in den Betrieb. Der Imperativ, den ich rekonstruiere, erzeugt eine ethische Revolution, er verlangt die Distanzierung zum bisherigen Leben und setzt auf Diskontinuität.

Selbstvervollkommnung jenseits der Trivialität des „Mehr"?

Sloterdijk: Jenseits der neoliberalen Metaphysik, die den Stoffwechsel verabsolutiert, indem sie uns den Satz in den Mund legt: Ich fresse, also bin ich. Und je mehr ich fresse, umso mehr bin ich. Und wenn ich zudem noch ein Maximum an Information umsetze, dann bin ich innerweltlich vollkommen, ein Vollkommener im Dienste der kapitalistischen Immanenz. Das prolongiert sich am deutlichsten im Augenblick der Krise: Jetzt flehen uns die Politiker an, den Stoffwechsel ja nicht zu vernachlässigen. Die geldgetriebene Verdauungsmaschine darf auf keinen Fall ins Stocken kommen.

Auch in linksliberalen Kreisen ist der Konsumismus negativ besetzt, aber wenn man das Einkaufen Nachfrage nennt, dann wird daraus etwas Positives.

Sloterdijk: Der Neoliberalismus hatte das ideologische Verdienst, die schamhafte Maske vor dem Konsumismus fallen zu lassen, er hat ihn geradewegs zum zentralen Lebensmotiv erklärt.

Was ist da in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren passiert?

Sloterdijk: Man hat uns in ein psychopolitisches Großexperiment über Frivolität verwickelt - aber was auf dem Programm stand, war nicht mehr aristokratische Frivolität, sondern Massenfrivolität, Leichtsinn und Egoismus für jeden. Man hat in dieser Zeit behauptet, Gemeinwohldenken sei gescheitert. Also blieb der Asozialismus, den wir höflicherweise Individualismus genannt haben, um uns mit besseren Gefühlen zu ihm zu bekennen. Doch was sind konsequente Individualisten? Es sind Menschen, die ein Experiment darüber veranstalten, wie weit man beim Überflüssigmachen sozialer Beziehungen gehen kann.

Aber kann der Kapitalismus ohne diese „Gierdynamik", wie sie das einmal genannt haben, funktionieren?

Sloterdijk: Die Wahrheit dieses Systems ist eine doppelte. Einerseits wird der Mensch als Stoffwechsler enthüllt, und dies drückt eine unleugbare Wahrheit aus. Zugleich kommt ein anderer Aspekt der Wahrheit über die Lage des Menschen zutage: Wir gelangen durch entfesselten Konsum an die Grenzen der Naturproduktivität. Die Menschheit erweist sich als eine Gattung, die es fertig bringt, die Natur leer zu fressen. Am bestürzendsten zeigt sich das beim Fischfang: Der Urlauber auf griechischen Inseln Inseln isst heute schon norwegische und finnische Fische, die über Nacht eingeflogen werden, weil die Ostägäis praktisch leergefischt ist.

Aber lautete die moralische Erzählung der liberalen Ökonomie nicht, dass der Eigennutz der Einzelnen in allgemeinen Nutzen umschlägt?

Sloterdijk: An sich ist dies ein höchst sympathisches Konzept, und es wäre zu wünschen, dass die Dinge so liegen. Es ist kein Zufall, dass selbst große Geister wie Kant mit diesem Modell sympathisiert haben - er hat zwar große Stücke auf den freien guten Willen gehalten, aber da er dem allein nicht die ganze Last der Sittlichkeit aufbürden konnte, setzte er zusätzlich auch auf den Marktmechanismus bzw. die gegenseitige Zivilisierung der Egoismen. Wir sehen inzwischen, wie verfrüht diese Zivilisierungshoffnung gewesen ist.

In Ihrem Buch „Zorn und Zeit" haben Sie die Metapher „Zornbank" geprägt. Die wurde ja in jüngster Zeit sehr ironisch modifiziert - jetzt sind es Banken, die den Zorn auf sich ziehen.

Sloterdijk: Es soll Kreise geben, in denen das Ansehen des Bankers noch unter das des Kinderschänders gesunken ist. Aber das war mit „Zornbank" nicht gemeint.

Sie beschrieben politische Organisationen, die Zorn und Empörung - etwa über Ungerechtigkeiten - in produktive Energien umwandelten, Parteien beispielsweise oder Gewerkschaften.

Sloterdijk: Das Konzept wird wieder aktuell, weil sich erneut die Frage stellt, ob es für die kollektive Empörung eine ansparbare und renditefähige Form geben kann.

Der Titel „Du sollst Dein Leben ändern" deutet nicht darauf hin - das ist ja ein Imperativ, der sich an den Einzelnen richtet.

Sloterdijk: Vergessen Sie nicht: Wir leben am Ende eines Zeitalters vereinseitigter Weltveränderung. Seit der Französischen Revolution behauptet die Forderung nach Weltveränderung den Vorrang vor der Selbstveränderung. Doch dieses Schema greift nicht mehr - nachdem man gesehen hat, zu welchen Ergebnissen die gewaltsame Weltveränderung von außen im Kommunismus geführt hat. Selbst der historische Kompromiss der Nachkriegszeit, den man den rheinischen Kapitalismus nannte, dieser real existierende Semisozialismus, in seiner strahlenden Lächerlichkeit, ist unwiederholbar...

Halt! Der war doch das Funktionstüchtigste, das wir hatten!

Sloterdijk: Auch als Linker hat man ein Recht ein Recht ihm nachzutrauern.

Aber weil er schon existiert hat, geht von ihm kein utopischer Glanz mehr aus, auf ihm liegt der Schatten des Nostalgischen?

Sloterdijk: Dies ist das Paradoxon des progressiven Denkens seit jeher: Wir können den Menschen ehrlicherweise immer nur das Zweitbeste vorschlagen, und das scheint gegen die menschliche Natur zu sein. Die will das Beste, und wenn man als Realist nur Zweitbestes im Angebot hat, verletzt man eine Spielregel der psychischen Wirklichkeit. Darum hat es jede nicht-utopische Linke schwer. Sie muss für Suboptimales Propaganda machen, von dem zudem nicht gewiss ist, ob man es erreicht. Wenn man heute etwas Großes versuchen wollte, müßte es eine ökologische Kühnheit sein.

Barack Obama versucht das gerade in den USA: Bankenrettung, gleichzeitig Sozialpolitik machen und obendrein ökologische Infrastrukturinnovationen. Kühnheit in der Krise lässt sich da doch attestieren.

Sloterdijk: Das Wort „change" ist das Schlüsselwort zu Obamas Erfolg gewesen. Man könnte sagen, Obama hat den Imperativ „Du musst Dein Leben ändern" ins Euphorische übersetzt, sodass nicht mehr von „müssen" gesprochen wird, sondern vom „können" - „wir können das". Das war ja das Genialische an dem Slogan „Yes, We Can". Die Amerikaner wollen lieber können als von einem Müssen überwältigt zu werden.

Simpel gesagt: Manchmal gibt es auch ein bisschen Glück in der Geschichte.

Sloterdijk: Was man am meisten braucht, ist zugleich das Unverfügbare.

Kommt jetzt der alte, verstaubte Begriff „Gemeinwohl" zurück?

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Ein anderer Philosoph und andere Antworten:

PHILOSOPHIE

„Wie ein Kino ohne Projektor“

Nietzsches Übermensch ist wieder da – in den Werken eines Peter Sloterdijk und Richard Dawkins. Robert Spaemann hält ihnen sein Menschen- und Gottesbild entgegen. Ein Gespräch mit dem Philosophen.

Rheinischer Merkur: Daimler wirbt mit dem Slogan: „Mercedes denkt und der Mensch lenkt.“ Früher hieß es: „Der Mensch denkt und Gott lenkt.“ Wie erklären Sie sich diese Rollenverschiebung?

Robert Spaemann: Meistens gibt es für solche Phänomene mehrere Ursachen. Sicher liegt es auch an der Faszination von Wissenschaft und technischem Fortschritt, der alles sprengt, was wir bisher in unserer Geschichte hatten. Da wir ein bisschen mehr können als früher, denken manche Menschen, ihnen sei alles möglich, was natürlich ein gigantischer Irrtum ist. Und ich frage mich, was lenken die Menschen denn eigentlich? Ja schön, ein Auto. Und was ist mit der Wirtschaftskrise, der Klimakatastrophe oder der Bevölkerungsexplosion, auf die wir zuschlittern? Und was ist mit den Kriegen und Völkermorden im 20. Jahrhundert? Wo ist da ein lenkender Mensch? Mir fällt dabei immer ein Wort von Johann Nestroy ein, das Ludwig Wittgenstein als Motto über seine philosophischen Untersuchungen gesetzt hat: „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer zu sein scheint, als er ist.“

RM: Der Philosoph Peter Sloterdijk will in seinem neuesten Buch aufräumen mit dem „Märchen von der Rückkehr Gottes“ Die Weltkrise sei die einzige Autorität, die heute sagen dürfe: „Du musst dein Leben ändern.“ Dieser Aufgabe sei nur der sogenannte Übermensch gewachsen.

Spaemann: Der Übermensch war eine Erfindung des Philosophen Friedrich Nietzsche aus dem 19. Jahrhundert als Ersatz für die Gottesidee. Dabei gab er zugleich unumwunden zu, dass die größte Idee der Menschheit die Gottesliebe sei, die Idee, dass der Mensch etwas lieben soll, was ihn selbst übersteigt. Da Nietzsche aber nicht glaubte, dass es Gott gibt, erfand er ein funktionales Äquivalent für die Gottesidee, was aber reine Phantasie ist; denn für den gläubigen Menschen ist Gott wirklich. Ich bin noch niemandem begegnet, der an die Wirklichkeit des Übermenschen geglaubt hätte. Der Übermensch ist ein Konstrukt, was übrigens Nietzsche selbst in seinem Werk „Zarathustra“ andeutet, wenn er vom „letzten Menschen“ spricht. Seine Schilderung deckt sich mit der heutigen Spaßgesellschaft: „Ein Lüstchen am Tag, in der Nacht ein Lüstchen. Nicht zu viel, das schadet der Gesundheit. Keiner will mehr regieren, keiner will befehlen. Keiner will gehorchen.“ Und dann schreit auf einmal die ganze Menge auf: „O Zarathustra, gib uns diesen letzten Menschen. Wir schenken dir den Übermenschen. Den wollen wir ja gar nicht. Lass uns doch den Spaß haben. Dann ist alles in Ordnung.“

RM: Sie behaupten, Gott sei ein „unsterbliches Gerücht“. Warum hält es sich so hartnäckig?

Spaemann: Wenn man fragt, wie kommen wir dazu, von Gott zu reden, obwohl ihn niemand gesehen hat, muss es einen Grund haben. Man kann nur sagen, es wurde immer von Gott gesprochen. Wenn wir dem Gerücht auf den Grund gehen, entdecken wir dahinter die Wirklichkeit. Und wir haben dafür das Wort Gott. Es taucht immer wieder auf, was immer auch dagegen unternommen wird. Dieses Gerücht ist unsterblich.

RM: Seit Menschengedenken gehen Philosophen der brennenden Frage nach Gott und Wahrheit nach. Platon hat 370 vor Christus das sogenannte Höhlengleichnis konstruiert. Was hat es heute noch zu sagen?

Spaemann: In dem Gleichnis kommt auch das Gerücht vor. Platon erzählt eine Geschichte von Menschen, die in einer Höhle sitzen, gefangen und gefesselt. Es ist dunkel. Sie können sich auch nicht gegenseitig berühren. Es gibt ein Feuer hinter ihnen. Figuren bewegen sich, ein Schattenspiel, das sich an der Wand abspielt. Die Höhlenbewohner halten diese projizierte Welt für die Wirklichkeit, weil sie in ihrem bisherigen Leben nichts anderes gesehen haben. Sie stellen Überlegungen an, was passieren könnte mit den Figuren, die an der Wand auftauchen. Aufgrund dieses Schattenspiels konstruieren sie allmählich ihre eigene Welt.

Für Platon ist dieses Höhlengleichnis ein Bild für den Menschen, der die sinnlich erfahrbaren Dinge für die eigentliche Wirklichkeit hält. Und das Herauskommen aus der Höhle ist das Erwachen des Bewusstseins für die eigentlichen Realitätsverhältnisse, dass die Grundstrukturen der Welt nicht abhängig sind von den materiellen Dingen. Der große Logiker Heinrich Scholz pflegte zu sagen: „Die Gesetze der Logik sind unabhängig vom Kreidevorrat der Welt. Das heißt: Wenn keine Tafeln und kein Papier mehr da sind, um diese logischen Gesetze aufzuschreiben, existieren sie dennoch ganz unabhängig von irgendwelchen sinnlichen Erfahrungen.“

Für Platon ist das, was wir sehen, nur die Außenseite der Wirklichkeit. Zur eigentlichen Wirklichkeit müsse der Mensch erst durchdringen, um die Innenseite der Wirklichkeit wahrzunehmen. So haben auch die Kirchenväter das Höhlengleichnis von Platon gedeutet als Bild für die Befreiung der Seele. Christus sei aus dem Reich der Sonne in die dunkle Höhle herabgestiegen

RM: Platon hat auch die Philosophen und Theologen des Mittelalters wie Anselm von Canterbury oder Thomas von Aquin mit den fünf kosmologischen Beweisen für die Existenz Gottes mit inspiriert. Sind diese Gottesbeweise noch zeitgemäß?

Spaemann: Ich kann jetzt nicht auf die einzelnen Gottesbeweise eingehen, sondern nur grundsätzlich sagen: Die mittelalterlichen Gottesbeweise machen alle die stillschweigende Voraussetzung der Verstehbarkeit der Welt. Die Welt wende uns ein lesbares Gesicht zu, weil sie von Gott geschaffen ist. Obwohl Immanuel Kant sämtliche Gottesbeweise kritisierte, hatte er einen schwerwiegenden Grund, an Gott zu glauben. Kant sagte, wenn schon jemand an Gott glaubt, dann sind für ihn auch die Naturphänomene Zeichen für die Wirklichkeit Gottes: „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Aber es sind für ihn keine zwingenden logischen Beweise, sondern plausible Reaktionen für jemanden, der schon an Gott glaubt. Für mich sind die mittelalterlichen Gottesbeweise gute Argumente, die allerdings voraussetzen, was in ihnen selbst nicht vorkommt, nämlich die Existenz Gottes, also eben das, was sie beweisen wollen.

RM: Im 19. Jahrhundert verwirft Friedrich Nietzsche die Glaubensthese Kants und verkündet lautstark: „Gott ist tot, es lebe der Übermensch.“ Im bisherigen philosophischen Denken war der Glaube an die Existenz Gottes weitgehend Voraussetzung für Wahrheit. Hat Nietzsche die Wahrheit auch zu Grabe getragen?

Spaemann: Nietzsche musste eingestehen, dass „auch wir Aufklärer, wir freien Geister des 19. Jahrhunderts, noch an dem festhalten, was der Glaube Platons war und was der Glaube des Christentums ist, dass Gott die Wahrheit und dass die Wahrheit göttlich ist“. Wenn wir aber nicht mehr an Gott glauben können, wie er meint, dann können wir auch nicht mehr an Wahrheit glauben. Dann gibt es nur die subjektive Perspektiven: Jeder hat seine eigene Perspektive auf die Welt. Der vollkommene Relativismus. Niemand kann sagen, wie es wirklich ist. Das gibt es nur, wenn es Gott gibt. Nietzsche geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt: Mit dieser Erkenntnis zerstört die Aufklärung sich selbst; denn sie lebte von dem Pathos der Wahrheit; sie wollte die Menschheit über die Wahrheit belehren und aufklären, weg von Illusionen, weg vom Aberglauben. Aber nun führe die Aufklärung dazu, die Idee Gottes zu beseitigen, womit sie ihre eigenen Voraussetzungen beseitigt.

Deshalb sah Nietzsche in seinem Nihilismus, mit dem man nicht auf die Dauer leben könne, ein Durchgangsstadium. Jenseits des Nihilismus erwartete er eine Welt mit neuen selbst geschaffenen Mythen, die mit Wahrheit nichts zu tun haben. Der von ihm propagierte heroische Nihilismus, der dem Schicksal ins Auge sieht und so lebt, dass er in unendlichen Wiedergeburten immer wieder so leben möchte. Er muss am Ende scheitern und in der Spaßgesellschaft enden. Das hatte Nietzsche vorausgesehen, wenn er das Volk sagen lässt: „Ach Zarathustra, gib uns den letzten Menschen, und wir schenken dir den Übermenschen.“

RM: Peter Sloterdijk lässt Nietzsches Mythos vom Übermenschen in seinem Buch „Du musst dein Leben ändern“ wiederaufleben. Der Mensch müsse üben, mehr als er selbst zu werden, um die Weltprobleme zu lösen. Als leuchtendes Vorbild dienen ihm die Spitzensportler, die das heilige Feuer des Übermenschen gehütet hätten. Sloterdijk setzt auf die Intelligenz, die für ihn in positiver Korrelation mit dem Willen zur Selbstbewahrung existiert. Wie beurteilen Sie seine von Nietzsche inspirierte Vision?

Spaemann: Man kann wohl nicht übersehen, dass Sloterdijk eine Zeitlang auch Bhagwan-Schüler gewesen ist (dieser Guru lehrte, man könne selber Gott werden, d. Red.). Seine Vorstellung, einen Mythos zu kreieren, an dessen Wahrheit man gar nicht glauben muss, oder den Egoismus einfach zu kultivieren und zu sublimieren zu einem heroischen Egoismus, klingt ziemlich phantastisch. Zu seiner Forderung nach einer Diktatur, nach einer Züchtung von Menschen schreibt er sinngemäß im Artikel „Der Menschenpark“: Die Erziehung sei heute nicht mehr imstande, die Kultur wirklich weiterzugeben. Stattdessen müssen wir den Menschen genetisch manipulieren, damit er so wird, wie wir ihn haben wollen. Was den Übermenschen betrifft, möchte Sloterdijk offenbar auf der Seite der Züchter stehen.

RM: In Ihrem Buch „Der letzte Gottesbeweis“ zitieren Sie Nietzsche mit den Worten: „Wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.“ Wie deuten Sie diesen Satz?

Spaemann: Da muss ich etwas ausholen. Wenn wir hier im Garten sitzen, wird es immer wahr sein, dass wir hier gesessen haben. Unser Gespräch hat stattgefunden. Nach unserer Grammatik impliziert jede Aussage eine Aussage im Futurum exactum. Wenn ich jetzt lese, dann werde ich hinterher gelesen haben. Wenn Sie und ich später gestorben sind, dann erinnert sich niemand mehr an dieses Gespräch. Es wäre dennoch Unsinn zu behaupten, es würde einmal der Moment kommen, wo wir nicht hier gesessen haben. Die Realität bleibt.

Nun behaupte ich, wenn wir nicht die Realität eines absoluten Bewusstseins annehmen, in dem alles, was geschieht, für immer aufgehoben ist, dann kann niemand erklären, was es heißt, dass etwas gewesen ist. Es ist dann weg. Wenn also dem Gewesensein nicht eine Wirklichkeit entspricht, und das ist die Wirklichkeit Gottes, dann gibt es kein Gewesensein. Wenn ich diese grammatische Struktur leugne, dann lebe ich im Absurden. Das meint wohl Nietzsche, wenn er sagt: „Wir werden Gott nicht los, solange wir an die Grammatik glauben.“

David Hume, der Vater des neuzeitlichen Empirismus, sagt: „Wir tun niemals einen Schritt über uns hinaus.“ Wenn es kein Jenseits gibt, dann leben wir im Absurden. Die Zecke weiß nichts von einem solchen Jenseits der Zeckenwelt. Ihre Welt besteht nur aus Buttersäure und Abwesenheit von Buttersäure. Was anderes ist für sie nicht real. Sein ist für sie nur für Sie-Sein. Anders der Mensch. Ich sitze auf einem Schiff, um mich herum der Ozean. Ich bin immer in der Mitte, der Horizont wandert mit mir. Ich sehe in der Ferne ganz klein am Horizont ein Schiff, bedeutungslos wie eine Fliege. Aber ich weiß, dass dort Menschen sitzen, die genauso im Mittelpunkt sind wie ich. Aus deren Perspektive bin ich ganz klein. Wenn wir uns selbst als denkende Wesen ernst nehmen wollen, dann müssen wir Gott annehmen und uns selbst relativieren. Wenn wir ihn aber leugnen, leugnen wir uns selbst als wahrheitsfähige Wesen.

RM: Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins hält den Glauben an die Existenz Gottes für eine Illusion. In seinem Buch „Der Gotteswahn“ macht er den biblischen Schöpfungsbericht lächerlich, weil er den wissenschaftlichen Erkenntnissen widerspreche.

Spaemann: Dawkins reagiert so ähnlich wie die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis. In unsere Zeit übersetzt, würden wir heute sagen: Die Leute sitzen im Kino. Was sie auf der Leinwand sehen, halten sie schlechthin für die Wirklichkeit. Niemand käme auf den Gedanken, dass ein Projektor diese beweglichen Bilder und Handlungen an die Leinwand projiziert. Und die Kinobesucher würden sich lustig machen, wenn jemand von einem Projektor faseln würde. Sie verstünden die Filmgeschichte auch ohne Projektor; sie ist ja doch innerlich vollkommen logisch aufgebaut und läuft nach plausiblen Regeln ab. Warum müssen wir dann annehmen, dass die ganze Geschichte aus einem Projektor hervorgeht? So ähnlich argumentiert Dawkins. Aber die Schöpfungslehre spricht nicht davon, wie sich die Wirklichkeit im Laufe von Jahrmillionen entwickelt hat, sondern wem dieses Ganze, das Universum, in jedem Augenblick zu verdanken ist. Es ist der Glaube an den „Projektor“, der das Ganze an die Wand wirft; denn ohne „Projektor“ spielt sich nichts mehr ab.

RM: Der Glaube an einen Schöpfergott ist also durchaus vereinbar mit der Evolutionstheorie?

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